L. J. Sackville: Heresy and Heretics in the Thirteenth Century

Cover
Titel
Heresy and Heretics in the Thirteenth Century. The Textual Representations


Autor(en)
Sackville, Lucy J.
Erschienen
York 2011: Medieval Press
Anzahl Seiten
Preis
224 S.
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kathrin Utz Tremp, Staatsarchiv Freiburg

Anzuzeigen ist ein höchst anregendes Buch aus der Schule des englischen Häresieforschers Peter Biller (auch wenn nicht angegeben wird, ob es sich um eine Dissertation oder eine Habilitationsschrift handelt). Es geht davon aus, dass die Häresie und die Häretiker des 13. Jhs. letzlich Konstrukte sind, die ihren Niederschlag in verschiedenen Textsorten gefunden haben, wobei die Textsorten teilweise auch den Inhalt der Konstrukte bestimmen. Mit diesem Ansatz situiert die Autorin sich jenseits des linguistic turn, und letztlich auch in der Nachfolge der Häresiespezialisten Herbert Grundmann (1902–1970), der bereits 1927 einen grundlegenden Artikel mit dem Titel «Der Typus des Ketzers in mittelalterlicher Anschauung» (in: Fs. für Walter Goetz, wiederabgedruckt in: H. Grundmann, Ausgewählte Aufsätze I, 313–27) veröffentlicht hat. Bei dem Buch handelt es sich im Grund um ein «imaginaire de l’heresie», wie wir es für die frühesten Texte über die imaginäre Hexensekte publiziert haben (siehe L’imaginaire du sabbat. Edition critique des textes les plus anciens, 1430 c. – 1440 c., réunis par M. Ostorero, A. Paravicini Bagliani, K. Utz Tremp, Lausanne 1999).

Die Autorin befasst sich mit vier verschiedenen Textgattungen: Anti-häretische Polemik, erbauliche und kirchenrechtliche Texte und schliesslich von der Inquisition produzierte Texte, allerdings eher Inquisitorenhandbücher als Verhöre (Kap. 1–4). Am Anfang eines jeden Kapitels werden jeweils die Texte, um die es geht, kurz vorgestellt, so im ersten Kapitel die polemischen «Summen», die fast alle aus Italien stammen (wie die Summa adversus catharos et valdenses des Dominikaners Moneta von Cremona). Hier werden die Häretiker nicht mehr als illiterati dargestellt wie noch im 12. Jh. Die Häresie ist nicht mehr ein Produkt von Ungebildeten – so leicht macht man es sich nicht mehr –, wohl aber entspringt sie einer falschen Auslegung der Schriften (Bibel, Patristik). Zu den erbaulichen Texten gehören insbesondere die Exempelsammlungen des Zisterziensers Caesarius von Heisterbach und des Dominikaners Stephan von Bourbon, aber auch biografische bzw. hagiografische Texte aus dem Dominikanerorden, bei dessen Gründung die Häresie eine äusserst wichtige Rolle spielte. In der Erbauungsliteratur sind die Häretiker nie um ihrer selbst willen dargestellt, wohl aber liefern sie die dunkle Folie für das moralisch richtige Verhalten der andern. Gerade in der dominikanischen Literatur geht es auch um die richtige Apostelnachfolge, welche die Dominikaner den Häretikern streitig machen; diese werden deshalb als falsch und scheinheilig dargestellt. Entsprechend erscheint die Häresie als zeitgenössisches, bedrängendes Problem.

Wieder anders verhält es sich mit der kanonisch- rechtlichen Literatur, d.h. mit den Statuten und Dekreten des 4. Laterankonzils, der regionalen, v.a. südfranzösischen Konzilien sowie mit Gratians Decretum und Gregors IX. Liber extra. Gerade das 4. Lateranum trägt sehr stark die Handschrift Papst Innozenz’ III., der bereits die Dekretale Vergentis in senium (1199) formuliert hatte. Das Konzil verdammte alle Häretiker ohne Unterschied und prägte eine neue Orthodoxie, die viel stärker vom katharischen Dualismus beeinflusst ist, als man gemeinhin weiss. Die regionalen Konzilien befassen sich vor allem mit den verschiedenen Graden des Involviertseins in die Häresie (die eigentlichen haeretici, die credentes, celatores/occultatores, receptatores, defensores, fautores). Es geht also viel weniger um die Häresie an sich als um die Beziehung zu den Häretikern, d.h. den Häresiarchen (auch wenn dieser Begriff noch nicht eben viel gebraucht wird). Was die grossen Kanonessammlungen betrifft, so stellen sich zwischen Gratians Dekret und dem Liber extra wichtige Veränderungen ein. Während die Häretiker im Dekret als Aussenseiter dargestellt werden, die sich aus eigenem Willen von der Kirche getrennt haben, erscheinen sie im Liber extra als von der Kirche Ausgeschlossene, was bedeutet, dass diese die Initiative zurückgenommen und - gewonnen hat.

Im vierten Kapitel kommen erste Inquisitorenhandbücher wie der Anonymus von Passau oder das Werk des Pseudo-David zur Sprache. Bemerkenswert ist, dass alle diese Handbücher eine gewisse historische Perspektive aufweisen, indem ihre Verfasser versuchen, für die verschiedenen Häresien einen Begründer zu finden (was bei den Waldensern sehr leicht und bei den Katharern sehr schwierig ist). Der Passauer Anonymus und Pseudo-David gehen noch viel mehr vom Topos des ungebildeten Häretikers aus als die italienischen Handbuchschreiber Raniero Sacconi und Anselm von Alessandria; der Topos scheint sich nördlich der Alpen länger gehalten zu haben als in der Lombardei, die nicht nur als gelobtes Land der Häretiker galt, sondern es zu einem gewissen Grad auch war (siehe 58, 125 und 185). Dabei verwickelt sich gerade der Passauer Anonymus in einige Widersprüche.

Im fünften und letzten Kapitel versucht die Verfasserin, die Fäden zusammen zu nehmen (was ihr nicht immer gleich gut gelingt). Dies tut sie unter drei Themen bzw. Titeln: Figurative construction, Number, Heresy and the heretic. Unter dem ersten Titel befasst sie sich insbesondere mit den Füchsen, mit denen die Häretiker nicht selten Hohelied 2, 15 («Fang uns die Füchse, die Füchse, die kleinen, die den Weinberg verwüsten») und Richter 15, 4–5 («Und Simson ging hin und fing dreihundert Füchse, kehrte Schwanz gegen Schwanz und tat zwischen je zwei Schwänze eine Fackel. Hierauf zündete er die Fackeln an und jagte die Füchse in die Kornfelder der Philister»). Aufgrund des ersten Zitats wurden die Häretiker mit Füchsen verglichen, die in den Weinberg des Herrn eingebrochen waren, und aufgrund des zweiten wurde ihnen vorgeworfen, dass sie unter sich nicht einig seien, im Unterschied zur Einigkeit der Orthodoxie. Schon Herbert Grundmann hatte stark auf diese beiden Bilder abgestellt, doch meint Sackville, dass er die Sache zu statisch gesehen habe. Im 12. Jh. wurde das Bild von den Füchsen in Weinberg vor allem von den Zisterziensern auf die Häretiker angewandt. Das Bild von den an den Schwänzen zusammengebundenen Füchsen erscheint zuerst in der Dekretale Vergentis in senium (1199) und geht von da in den Liber extra ein; es wird aber auch vom Anonymus von Passau und von Stephan von Bourbon benutzt. Nichtsdestominder verglich man im 13. Jh. den Häretiker eher mit dem Wolf im Schafspelz (Matth. 7, 15) als mit dem Fuchs im Weinberg, wobei das erstere Bild insbesondere für die Falschheit und Scheinheiligkeit der Häretiker ins Feld geführt wurde; leider setzt sich die Verfasserin mit diesem Bild weniger eingehend auseinander als mit dem Fuchs im Weinberg.

Das Bild von den an den Schwänzen zusammengebundenen Füchsen gibt den Blick auf ein weiteres Problemfeld frei, nämlich dasjenige von Uniformität und Pluralität der Häretiker (bei Sackville unter dem Titel «Number»). Während die ältere Polemik, basierend auf Isidor von Sevillas Häretikerkatalog, der nicht weniger als rund siebzig Häresien nennt, vor allem die Vielzahl und Vielfalt der Häresien und ihre Uneinigkeit betont hatte, sah die jüngere Polemik vor allem die Einheitsfront der Häretiker gegen die orthodoxe Kirche. Gerade in der erbaulichen Literatur wird kaum je zwischen den verschiedenen häretischen Strömungen unterschieden. Dagegen differenzieren die Inquisitoren zwischen älteren und «modernen» Häresien und kommentieren einerseits mit Zufriedenheit, dass die Häresien im Ganzen zurückgegangen, und andererseits in apokalyptischem Ton, dass die «modernen» Häresien viel bedrohlicher seien als die älteren. So weisen sowohl die Einheit als auch die Diversität der Häresien jeweils zwei Seiten auf.

Zitierweise:
Kathrin Utz Tremp: Rezension zu: Lucy J. Sackville, Heresy and Heretics in the Thirteenth Century. The Textual Representations, York, Medieval Press, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 674-676.

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